Eine kleine Weihnachtsgeschichte von den Erzhütten
Es war Winter auf den Erzhütten, dort am Rand von Kaiserslautern,
wo die Gärten still daliegen
und der Schnee die Dächer weiß macht.
Nur der Wind war noch unterwegs.
Er kam den Hügel hinauf und flüsterte durch die kahlen Zweige.
Ein leises Lied, wie aus einer anderen Zeit.
Unter der Napoleon-Eiche,
einem uralten Baum mit einer Krone so weit, dass sie fast den Himmel berührte,
wohnte ein kleiner Igel.
Er hieß Emil.
Doch alle Tiere in der Gegend nannten ihn nur „Erzi“ oder „den unter der Eiche“.
Tief unter dem Laub, zwischen Wurzeln und Moos,
hatte er sich ein Nest gebaut – warm, weich und so still,
dass man nur sein leises Atmen hörte.
Normalerweise schlief Emil im Winter fest.
Wochenlang.
Doch in dieser Nacht war etwas anders.
Der Wind klang … anders.
Nicht wie sonst, wenn er Geschichten vom Tal erzählte.
Heute klang er traurig.
Fast so, als weine der Wald.
Emil öffnete ein Auge. Dann das andere.
Er kroch langsam aus seinem Nest,
das Laub raschelte, und der Schnee glitzerte im Mondlicht.
„Wer ist da?“ schnaufte er vorsichtig.
Da antwortete ihm eine Stimme,
tief und weich, als käme sie aus dem Innersten der Erde:
„Ich bin’s, alter Freund.
Ich bin die Eiche, unter der du wohnst.“
„Warum weckst du mich, Napoleon-Eiche?“ fragte Emil leise.
„Weil etwas fehlt“, seufzte der Baum.
„Der Schnee liegt schön, ja. Aber die Menschen bringen kaum noch Futter für die Vögel.
Der Ochsenbrunnen ist still geworden – verdreckt und beinahe versiegt.
Und die Lichter in den Häusern, sie leuchten heller als je zuvor …
doch draußen ist es dunkler geworden.“
Einen Moment lang schwieg der Wald.
Nur das Knacken des gefrorenen Bodens war zu hören.
„Früher“, flüsterte die Eiche, „war der Winter voller Stimmen.
Da klopften Spechte an meinem Stamm,
da huschten Mäuse durchs Laub,
und Kinder lachten, wenn sie Nüsse unter meinen Zweigen suchten.
Aber nun … sind viele fort.
Die Menschen eilen an mir vorbei, die Köpfe gesenkt,
und ihre Hände tragen keine Körbe mehr,
sondern nur noch Lichter, die blenden, statt zu wärmen.“
Emil sah hinauf. Der Mond glitt zwischen den Ästen hindurch wie ein stiller Wächter.
„Und die Tiere?“, fragte er leise.
„Sie hungern“, antwortete die Eiche.
„Die Meisen finden keine Nahrung, die Eichhörnchen haben ihre Verstecke verloren,
weil die Menschen die alten Sträucher schneiden, bevor der Frühling kommt.
Selbst der Wind trägt keine Lieder mehr – nur das Lärmen der Straße unten im Tal.“
Die Stimme der Eiche zitterte, als hätte selbst sie Kälte im Herzen.
„Weißt du, kleiner Freund, Weihnachten war einst ein Fest,
das Licht in die Dunkelheit brachte.
Nicht das grelle Licht der Fenster – sondern das leise, das aus Herzen kommt.
Doch das scheint verloren gegangen zu sein.
Darum wecke ich dich – vielleicht kannst du daran erinnern, was wirklich zählt.“
Emil schwieg lange.
Er war nur ein kleiner Igel.
Was konnte er schon tun?
Da fiel ihm Leni ein – das Mädchen aus dem gelben Haus.
Sie hatte ihm im Sommer Wasser hingestellt, wenn die Sonne zu heiß war.
Vielleicht konnte sie helfen.
Und so stapfte Emil los.
Langsam,
mit kleinen Spuren im Schnee,
durch die Gärten,
an Zäunen vorbei,
bis zum Haus mit dem warmen Licht.
Er klopfte mit der Pfote an die Scheibe.
Tock. Tock. Tock.
Drinnen saß Leni mit ihren Eltern.
Sie schmückten gerade den Weihnachtsbaum.
Leni sah auf, blinzelte – und rannte zur Tür.
„Mama! Papa! Der Igel ist wieder da!“
Sie kniete sich hin, und Emil sah,
wie sich ihr Atem als kleine Wolken im Licht einer Straßenlaterne auflöste.
„Du bist ja ganz kalt“, flüsterte sie.
Sie holte Wasser, ein Stück Apfel,
und setzte sich zu ihm in den Schnee.
Eine Weile saßen sie einfach nur da.
Keiner sagte etwas, aber Emil blickte sie an
– und irgendwie verstand sie.
Manchmal braucht es keine Worte.
Nur ein Gefühl, dass etwas getan werden muss.
Am nächsten Morgen stand Leni früh auf.
Während die anderen noch schliefen, zog sie ihre Stiefel an,
nahm ihren Vater bei der Hand und ging hinaus.
Gemeinsam stellten sie kleine Futterhäuschen in den Garten,
füllten sie mit Körnern und Nüssen,
hängten Meisenknödel an die Zweige,
und unten am Ochsenbrunnen
sammelten sie den Müll auf und schaufelten das Eis fort,
bis das Wasser wieder gluckste.
Leni lächelte. „So können sie Weihnachten auch feiern“, sagte sie leise.
Ihr Vater nickte – und in diesem Moment kam ein Rotkehlchen angeflogen,
setzte sich auf den Rand eines Futterhauses und sang.
Ein helles, zartes Lied,
das klang,
als würde der Winter selbst kurz innehalten.
Und als am Heiligabend die Kirchenglocken durch den Schnee klangen,
leuchteten die Sterne heller als zuvor.
Vielleicht, weil die Eiche wieder lächelte.
Unter ihr, tief in seinem Nest, lag Emil
– sein kleiner Bauch rund vom Apfel,
sein Herz ganz still und froh.
Und der Wind, der über die Hügel zog, sang ein Lied vom Frieden.
Ein Lied, das man nur hören kann, wenn man still genug lauscht.
(Manchmal beginnt Weihnachten dort,
wo jemand auf die leisen Stimmen der Welt hört.)
© Bernhard Christian Erfort, 2025
wunderschön❤️❤️❤️